Ich lebe seit einiger Zeit selbstbewusst abstinent und moderierte lange Zeit eine Selbsthilfegruppe. Auch heute engagiere ich mich noch für unterschiedliche Selbsthilfeangebote. Die Selbsthilfe ist für mich eine wichtige und notwendige Säule, für jeden abhängigkeitserkrankten Menschen auf dem Weg zur Gesundung. Als ich in die Abstinenz gegangen bin, habe ich für mich entschieden, dies selbstbewusst tun zu wollen.
Mir meiner selbst bewusst zu werden bedeutet, dass ich mir anschaue, wo ich stehe und wie ich aufgestellt bin. Das Ergebnis dieser Überlegungen war die Erkenntnis, dass ich an meinem verschobenen Weltbild, meiner kranken Persönlichkeit und an den Zugeständnissen, die ich an meine Umwelt gemacht habe, erkrankt bin.
Hieraus konnte ich für mich drei Baustellen ableiten:
- Baustelle: Ich war der Meinung, dass jede Person es gut mit mir meint. Das stimmt nicht!
- Baustelle: Ich war der Meinung, wenn sich meine Umstände ändern, würde es mir wieder gut gehen. Auch das stimmt nicht!
- Baustelle: Meine Zugeständnisse an meine Umwelt sahen so aus, dass ich es allen Menschen recht machen wollte. Das geht nicht!
Das waren also meine größten 3 Baustellen. Ich habe mir dann eine Prioritätenliste erstellt. Was ist mir am wichtigsten in meinem neuen Leben? Ganz oben stand meine Abstinenz. Dem hat sich alles andere unterzuordnen. Wow, was für ein Anspruch?
Das war der schwierigste Teil meiner Persönlichkeitsarbeit. Mich selbst immer im Blick zu haben, achtsam und sorgsam mit mir umzugehen – ein langer Lernprozess! Mich ständig zu fragen, tut mir das gut? Ich habe lange gebraucht ein Gefühl dafür zu entwickeln was mir denn überhaupt gut tut.
Eine gute Eigenschaft, die ich erneut lernen durfte, war das „Nein“ sagen. Ich hatte in meinem alten Leben viel zu oft „Ja“ gesagt, aber eigentlich „Nein“ gemeint. In seltenen Fällen passiert es mir heute noch, da ich, wenn ich mich nicht kontinuierlich mit dem Thema auseinandersetzte, in alte Verhaltensweisen zurückfalle. Wenn mir das auffällt, rudere ich zurück und sage, dass ich mich mit meinem „Ja“ zu weit aus dem Fenster gelehnt habe. Dazu kam die Erkenntnis, alles was ich nicht selbst veranlasse geschieht auch nicht. Damit war meine 2. Baustelle zurechtgerückt. Ich darf überall dort tätig werden, wo mir etwas nicht gefällt. Mit der Zeit habe ich mir ein Schema angeeignet, dass ich immer wieder zu Rate ziehe:
- Dient es meiner Abstinenz?
- Dient es meiner Zufriedenheit?
- Bringt es mich in eine rückfallgefährdete Situation?
- Kann ich die Konsequenzen meiner Entscheidung tragen?
- Habe ich die Geduld, Dinge auszuhalten, die ich nicht ändern kann?
Mit anderen Worten: Mein Umfeld reagiert auf mein Handeln. In aller Regel handele ich anders als in meiner „Saufzeit“. Das muss auf Widerstand stoßen – mal weniger, mal mehr. Wenn ich ein „Nein“ ausspreche, wird das oft als arrogant empfunden. Das kann ich aushalten, da ich weiß, dass es keine Arroganz ist, sondern Selbstsorge und Selbstschutz. Ich darf mir auch darüber im Klaren sein, dass ich manchen Menschen mit diesem Verhalten auf die Füße trete und sie sich vielleicht zurückziehen. Diese Erkenntnis war für mich eine der schmerzhaftesten – wollte ich doch Keinem weh tun. Aber ich kann nicht für mich sorgen, die fünf vorher aufgezählten Punkte im Auge behalten und es gleichzeitig jedem recht machen wollen.
Ein Beispiel: Wenn mich ein Mensch bittet auf seiner Geburtstagsfeier hinter dem Tresen zu stehen und Bier zu zapfen, dann dient dies nicht meiner Abstinenz und meiner Zufriedenheit und ich darf, wenn ich für mich sorge, ausdrücklich „Nein“ sagen. Ja, ich muss sogar „Nein“ sagen! Vielleicht versteht er es, aber es besteht auch die Möglichkeit, dass er geknickt von dannen geht.
Ein anderes Beispiel: Ich nehme niemanden mit oder fahre bei einer anderen Person mit, wenn es zu einer Veranstaltung geht, bei der Alkohol konsumiert wird, da dies zu einer risikobehafteten Situation führen kann. Möchte ich nach Hause, weil mir die Angetrunkenen nur noch auf den Geist gehen, während meine Mitfahrenden noch am Tresen stehen und wild diskutierend Argumente vortragen, um die Zuhörenden doch noch von ihrer Meinung zu überzeugen, kann dies schnell in Frust und Unzufriedenheit umschlagen.
Unzufriedenheit ist der erste Schritt zum Rückfall. Auch eine Regel, die sich aus unzähligen Erfahrungen ableiten lässt. So gibt es auch noch subtilere Beispiele, wo es viel schwieriger ist zu entscheiden was richtig und was nicht richtig ist. Einen Leitsatz, den ich mir aus meinem Leben abgeleitet habe, ist folgender: Jeden Vorteil erkaufe ich mir mit mindestens einem Nachteil oder in jedem Nachteil steckt mindestens auch ein Vorteil!
All das und noch viel mehr habe ich durch meine Krankheit und mit Hilfe der Selbsthilfe lernen dürfen. Das hat mich dazu gebracht zu sagen: Ich bin froh ein Alkoholiker zu sein!
Wer noch Fragen an mich hat, darf mich gerne anschreiben. Dieses Thema ist leider viel zu komplex, als dass man es mit einfachen Worten beschreiben und lösen kann.
Liebe Grüße und Allen viel Kraft und Mut, euer Gerald